In the summer of 2022, I had the great privilege of holding the graduation speech for three generations of German United World College graduates. This is the write-up of my message to young idealists and changemakers who (due to the Covid-19 pandemic) are looking back on disrupted, unexpected and challenging final years at United World Colleges around the world. – text in German –
Liebe Absolventinnen und Absolventen,
Liebe Eltern und Wegbegleiter,
vor genau elf Jahren stand ich schon einmal vor einer UWC Absolvent:innen-Gemeinde und hielt eine Rede; damals als Abiturientin, als UWC Graduate, mit dem IB im Gepäck, mit vielen großen Plänen, vielen unbeantworteten Fragen und – das kann ich im Nachhinein sagen – mit vielen UWC-Erlebnissen, die ich im Jahrzehnt nach dieser meiner Absolventenfeier erst noch machen sollte.
In Vorbereitung auf den heutigen Festakt habe ich mir meine Rede von damals nochmal durchgelesen. Groß waren die Worte, die ich damals genutzt habe, und vielseitig, ambitioniert die von mir als roter Faden gewählte Metapher vom Koffer voller Erfahrungen, vom Sperrgepäck und den vielen seltsamen Kuriositäten, die man nach zwei Jahren College mit nach Hause bringt.
Heute denke ich mit einer gewissen Verwunderung an die 18-jährige Angelika: die Zeit am UWC war kaum passé, und schon schien ich ohne groß zu zögern bereit, mich an ein Resümee zu wagen. Die Freude am Diskutieren und am Anprobieren unterschiedlicher Standpunkte, auch die Freude daran, sich eine eigene Meinung zu bilden und mutig zu vertreten – das hatte ich auch damals schon mit ganz vielen meiner Co-Years gemein. Auch meine nachdenklichen Fragen nach dem tieferen Sinn, den großen Lebenslektionen hinter all den bunten, spannungsgeladenen wie spannenden Erlebnissen am College passen gut in das Bild des UWC Graduates.
Heute kann ich in den Rückspiegel blicken. Über ein Jahrzehnt ist seit meiner Zeit am UWC vergangen. Was bleibt von dieser Zeit? Was sind die großen Lektionen, die heute noch für mich wichtig sind, und die ich euch Graduates mit auf den Weg geben könnte? Drei Kernbotschaften habe ich euch mitgebracht. Die erste ist die einfachste:
Wenn ihr wollt, dann fängt eure UWC-Zeit gerade erst an.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem die United World Colleges nicht in meinem Alltag vorkommen. Seit meiner Graduation im Sommer 2011 bin ich mehrmals an ganz unterschiedlichen UWCs gewesen – mal als Gast, mal als Mitglied im Ehemaligenvorstand, mal als Sozialpsychologin. Vor ein paar Monaten war ich das erste Mal in Pearson College in Kanada und habe dort die strikten Covid-Maßnahmen aus nächster Nähe erleben können. In Wales habe ich im Januar und Februar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, bei der Entwicklung eines neuen Changemaker Curriculums mitgewirkt. Mein eigenes College in Norwegen kennt mittlerweile auch mein Mann, der nach einem gemeinsamen Besuch dort gleich ein mehrwöchiges Lehrer-Praktikum absolvieren durfte. Im August werden wir endlich gemeinsam dorthin zurückkehren und meine 10-Year Reunion nachholen.
An den Colleges, die ich als Alumna besuchen durfte, wird UWC für mich immer wieder lebendig. Aber auch wenn es die United World Colleges gibt, ist UWC im Grunde genommen natürlich viel mehr als ein Ort. UWC ist eine hoffnungsvolle Idee. Eine Grundhaltung zu kultureller Vielfalt; zu gemeinschaftlicher Verantwortung; zur Rolle von Bildung in einer friedlichen und zukunftsfähigen Gesellschaft.
Wenn ihr möchtet, dann werden sich deswegen ganz ortsungebunden, überall auf der Welt und in den seltsamsten Momenten, immer wieder Gelegenheiten für euch ergeben, eure UWC-Zeit – eure Auseinandersetzung mit der UWC-Idee – fortzusetzen.
In meinem Fall haben zwei Jahre kulturelle Vielfalt auf engstem Raum ganze sechs Jahre lang meine wissenschaftliche Arbeit geprägt. Als Sozialpsychologin habe ich von 2013 bis 2020 multikulturelle Freundschaftsbeziehungen erforscht. Meine Doktorarbeit habe ich in Oxford über die Frage geschrieben, inwiefern multikulturelle Freundschaften unsere Vorurteile und Einstellungen zu Vielfalt beeinflussen können.
Immer wieder zeigt sozialpsychologische Forschung an Schulen, dass nicht primär faktisches Wissen über unterschiedliche Gruppen und Kulturen Diskriminierung beeinflusst, sondern dass die Qualität unserer Beziehungen viel ausschlaggebender für Herzens- und Meinungsbildung ist. Freunde mit einem anderen religiösen, ethnischen, kulturellen Hintergrund – das wissen alle UWCler – haben einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Gefühle und Gedanken, mit denen wir fremden Menschen aus anderen Kulturkreisen begegnen.
Die Beziehungen, auch (und das ist im Zeitalter der Pandemie so wichtig) die virtuellen, die sich an UWCs entwickeln, beeinflussen unser Fühlen und unser Denken auf ganz grundsätzliche Art und Weise – und das ein Leben lang. Die Welt durch die Augen des UWClers betrachtet wird kleiner; Krieg in der Ukraine wird auf einmal sehr persönlich; Dürren in Indien lassen uns nicht kalt; Wahlen, Fußballspiele, Migrationsbewegungen – alles assoziieren wir auf einmal mit einem bekannten Gesicht, einer vertrauten Stimme, einem längst geläufigen Namen.
Weltgeschichte verquickt sich so mit privatem Leben. Auch das ist Teil eurer UWC-Erfahrung, sei eure Zeit am College auch kurz, voller Unterbrechungen, voller Covid-Regulierungen und vielleicht voller Enttäuschungen gewesen. Die UWC-Grundidee und eure ganz persönlichen Erlebnisse mit Mitschülerinnen und Mitschülern werden weiter in euch nachhallen. Sie können euren Blick auf noch unbekannte Menschen, fremde Kulturen, und große gesellschaftliche Fragen nachhaltig weiten.
Auch wenn ihr nicht, wie ich, eines Tages den Drang verspüren solltet, diese Prozesse wissenschaftlich zu erforschen möchte ich euch doch einladen, euch immer wieder auf den Weg zu machen. Immer wieder neue Kontakte über Gruppengrenzen hinweg zu suchen und somit der UWC-Idee weiter Raum in eurem Alltag zu geben. In zehn Jahren werden viele von euch dann vielleicht beim Blick zurück entdecken, auf welch unerwartete und vielfältige Art und Weise die zwei Jahre am College euer Denken, Handeln und Fühlen auch weit über die College-Zeit hinaus geprägt haben.
Nachdem ich Anfang 2020 meine Promotion abgeschlossen hatte, ergaben sich für mich viele spannende Möglichkeiten, mein Wissen über Vielfalt in Gruppen auf neue Kontexte zu übertragen. Auf den militärischen, zum Beispiel, und auf den unternehmerischen. Meine Arbeit mit vielseitigen, diversen Teams zeigt immer wieder, wie wichtig es ist, sich vorallem aktiv mit unterschiedlichen Einstellungen und Perspektiven auseinander zu setzen, wenn man das Potential von Diversity, von Vielfalt, ernsthaft freisetzen möchte.
Und darin liegt meine zweite Kernbotschaft an euch:
Macht euch aktiv auf die Suche nach unbequemen Diversity-Erfahrungen.
Sucht ganz bewusst nach immer neuen Möglichkeiten, euch mit Menschen auszutauschen, die einen ganz anderen Blick auf die Welt haben als ihr selbst.
Hier – das zeigt Forschung z.B. zum Innovationspotential diverser Gruppen – müssen wir ansetzen, wenn Inklusion und Vielfalt in Teams mehr sein soll als nur ein Buzzword oder ein LinkedIn-Post.
UWCs sind in ihrer ganzen Komplexität keine bequemen Lernmilieus, das wisst ihr aus allererster Hand. Gerade deshalb kann während der Zeit am College so unheimlich viel Wachstum passieren; gerade deshalb entstehen dort neue und mutige Ideen für unsere Welt. Immer wieder sieht man sich als UWCler konfrontiert mit der Frage, welche Haltung eines Mitschülers man tolerieren möchte, wann man eine Sichtweise oder ein Verhaltensmuster absolut inakzeptabel findet, wer welche Regeln und Normen etablieren darf. Es ist ein ständiges Ausloten der eigenen Toleranzschwelle, ein stetes Verhandeln von Werten und von Grenzen.
Die Welt ist geladen mit solchen Spannungsfeldern. Nichtsdestotrotz sind die meisten Menschen unglaublich geschickt darin, sie zu vermeiden, zu ignorieren oder gar zu leugnen. Ich wünsche euch sehr, und ich wünsche unser vielfältigen und komplizierten Welt von Herzen, dass ihr eure UWC-Erfahrung nutzen könnt, um euch diesen Spannungsfeldern auch in Zukunft auszusetzen. Und dass ihr andere mitnehmen mögt bei der Suche nach Lösungen, bei der Aushandlung eines gemeinsamen, nachhaltig gehbaren Wegs in die Zukunft. Eure Diversity-Erfahrungen am UWC bieten euch für diese Herausforderung eine tolle Grundlage, auf die aufzubauen sich in allen Lebensbereichen lohnt!
Den anwesenden Eltern und Wegbegleitern möchte ich zur Auseinandersetzung mit vielseitigen Perspektiven und zum Aushandelns neuer Standpunkte folgendes mitgeben: Erlaubt euren Kindern, ihre heute so selbstbewusst formulierten Meinungen immer wieder zu ändern und zu hinterfragen. Wenn sie die Größe und die Kraft zeigen, ihre Standpunkte immer wieder neu in Frage zu stellen, dann zeigt Neugier für neu in ihnen keimende Überzeugungen. Freut euch an ihrem nie endenden Meinungsbildungsprozess, anstatt sie als orientierungslos, naiv oder inkonsequent zu verurteilen.
Das Herauskristallisieren gefestigter Meinungen ist in den Augen vieler ein wesentlicher Bestandteil vom Erwachsenwerden. Wir sollten dies aber nicht als unbedingte Stärke oder einen Ausdruck von Reife und Weisheit überhöhen. Fragen wir uns vielmehr, wann wir uns das letzte Mal ernsthaft mit diversen Sichtweisen und Weltanschauungen auseinandergesetzt haben und was uns davon abhält, unsere eigenen Meinungen immer wieder ergebnisoffen auf den Prüfstand zu stellen.
Noch eine dritte Beobachtung drängt sich mir beim Blick in den eigenen Rückspiegel auf die Zeit seit meiner Graduation auf.
Es ist die Einsicht, dass jeder und jede von uns es in der Hand hat, unsere eigene Geschichte zu erzählen. Und wie wichtig es ist, welchen Erzählstrang wir für uns wählen.
Wir alle schreiben uns im Laufe unseres Lebens eine eigene Geschichte – manchmal ganz bewusst, häufiger aber im Unbewussten. Manchmal begegne ich in meiner Arbeit mit Führungskräften und als Coach Menschen, die sich ihre Welt auf eine Art und Weise erklären, die sie hadern und erstarren lässt. Ihre Biografie steht dann vielleicht unter der Überschrift „Ich werde immer im Regen stehen gelassen“ oder „Menschen wie ich können nichts bewegen“.
Ich wünsche jeder und jedem von euch, dass ihr ganz im Sinne der Changemaker als Menschen in die Welt geht, die andere von ihrer Sache begeistern. Menschen, die begeistern können, die aus Rückschlägen und Tiefpunkten Kraft und Motivation schöpfen, haben irgendwann einmal angefangen, ihre persönliche Geschichte neu zu erzählen.
Wer z.B. früh erleben musste, dass Vertrauenspersonen im Leben nicht den nötigen Halt geben, dass Beziehungen zerbrechen oder dass Institutionen nicht das halten, was sie versprechen, der kann mit dem Glaubenssatz durch’s Leben gehen „Auf niemanden ist Verlass“. Er oder sie kann aber auch, mit den gleichen Erlebnissen, den Glaubenssatz in den Vordergrund der eigenen Geschichte stellen „Komme was wolle, mein innerer Kompass, hat mir bei all der Unplanbarkeit des Lebens doch immer noch Orientierung gegeben“. Wie wir auf unser Leben schauen, welche Geschichte wir uns selbst und anderen über unser Leben erzählen – es liegt in nicht unerheblichem Maße in unser eigenen Hand.
Neulich habe ich eine Führungskraft im Coaching gehabt, die für eine leitende Position in einer globalen Institution in die engere Wahl gezogen wurde – ein recht junger Mann, ein Underdog im Bewerbungsprozess. Im Zuge unseres einstündigen Gespräches stellte sich heraus, dass in der Geschichte, die er unbewusst über sein eigenes Leben schreibt, Macht immer korrumpiert. Erst als ihm dieses Narrativ bewusst wurde, verstand er, warum er sich in den machtvollen Positionen, in die sein Ehrgeiz und seine Kompetenz ihn stets manövrieren, so unwohl fühlte. Warum er in Rollen voller Verantwortung und voller Potenz immer wieder innerlich auf die Bremse tritt. Macht macht in seiner Geschichte aus guten Menschen, schlechte Menschen.
Wenn wir uns der Macht der Geschichte, die wir uns tag täglich über unser Leben, oder das Leben ganz allgemein, erzählen, bewusst werden, dann ergattern wir uns die Deutungshoheit über all das, was in unserem Leben passiert, ein Stück weit zurück. Wir werden weniger zum Spielball der Wellen des Schicksals und können stattdessen Rückschläge und Enttäuschungen umdeuten in Erlebnisse, die uns weiterbringen und eines Tages als lauter rote Fäden gewinnbringend in unsere Geschichte einfließen.
Meine Erfahrung zeigt, dass diese roten Fäden – die immer wiederkehrenden Motive und Themen in unseren Leben – häufig erst im Rückspiegel sichtbar werden. Erst im Rückblick wurde mir klar, dass mein Forschungsschwerpunkt in direktem Zusammenhang mit meinen eigenen UWC-Erfahrungen steht. Erst im Nachhinein habe ich verstanden, welche Parallelen doch bestehen zwischen der anstrengenden Auseinandersetzung mit Vielfalt in militärischen Einheiten oder in unternehmerischen Führungsteams, und den multikulturellen Spannungsfeldern, die ich am UWC erleben konnte.
Auch für euch wird eure UWC-Zeit mit Sicherheit zu einem wichtigen Erzählstrang werden. Aller Enttäuschungen, aller überworfenen Pläne und neuen Unsicherheiten zum Trotz, wünsche ich euch, dass ihr mit Bedacht eure Geschichte damit fortspinnt. Es erwarten euch viele, viele Anknüpfungspunkte da draußen – im Studium oder in der Ausbildung, im freiwilligen sozialen Jahr, auf Reisen, in all den Begegnungen, die auf euch warten und all den Verpflichtungen, die ihr eingehen werdet. Manchmal wird das, was ihr euch aus der Zeit am UWC mitnehmt, in den Hintergrund treten. Und manchmal wird sich der rote Faden ganz von selbst anbieten, damit ihr ihn aufgreifen könnt.
Liebe Eltern: wenige Menschen haben mehr Einfluss auf die Geschichten, auf die Glaubenssätze, die uns durchs Leben leiten, als unsere Eltern. Unsere Haltung zu Geld, Macht, Moral, Bildung, Liebe – wer von uns hat nicht den Vater oder die Mutter im Ohr, die hierzu und dazu uns den ein oder anderen Satz eingeprägt haben. Helft euren Kindern, aus dem Chaos der Welt, aus der Einsamkeit der letzten Jahre, aus der Hilflosigkeit im Angesicht von Krieg, und Hunger, und Klimakrise Kapitelüberschriften in ihren Geschichten über das Leben zu machen, die sie stärken. Fragt sie, wenn sie mit ihrer UWC-Zeit hadern, worin die Kraft, worin das Potenzial dieser ungewöhnlichen Erfahrung liegt; warum die Welt vielleicht gerade jetzt eine Generation an Idealisten braucht, deren Idealismus auch Bestand hat, wenn alte Gewissheiten über Bord geworfen werden müssen, wenn Pläne nicht nach Plan gehen und wenn man sich immer wieder neu an neue Realitäten anpassen muss.
Ich frage mich, wie die Welt aussehen mag, wenn vielleicht eine oder einer von euch in einem Jahrzehnt hier steht, und auf die eigene Zeit als UWCler zurückblickt. Als ich am College war, hatte kaum einer Facebook und Instagram war kaum mehr als eine blasse Idee am Horizont. Mit meinen Eltern telefonierte ich über das Festnetztelefon auf dem Flur, und Laptops im Unterricht waren eine absolute Ausnahme. Es sprach noch kaum jemand über geschlechtergerechte Sprache oder Intersectionality. In Deutschland gab es damals offiziell nur 60 000 Veganer und von Flixbussen hatte noch nie jemand gehört. Trump beschränkte sich auf The Apprentice, und dass Finland eines Tages der NATO beitreten würde, war fast undenkbar.
Für den Besuch eines UWCs seid ihr alle ausgewählt worden, weil ihr das Potenzial habt, diese turbulente und komplizierte Welt im Flux aktiv – mutig, kraftvoll, nachdenklich, innovativ, weltoffen, intelligent – mitzugestalten. Auch wenn die letzten Jahre, auch eure College-Jahre, alles andere als leicht waren und wahrscheinlich ganz anders verlaufen sind, als ihr euch das vorgestellt habt, hat die Pandemie nichts an eurem Potential geändert.
Ich wünsche euch von Herzen, dass ihr dieses Potenzial weiter ausbauen mögt. Dass ihr selbstbestimmt eure UWC-Geschichte fortschreiben könnt, dass ihr nicht aufhört, euch den Spannungsfeldern unserer vielfältigen Gesellschaft zu stellen, und dass ihr den heutigen Tag als Ende der Ouvertüre eurer UWC-Zeit erlebt, nicht als Finale.
Herzlichen Glückwunsch zur Graduation – The best is yet to come!